Seabeck Deafblind Retreat 28.8.-03.09.2016


Dieser Artikel steht auch in der Novemberausgabe der Deutschen Gehörlosenzeitung!

 

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Quelle: DGZ


Der folgende Text ist ein Erfahrungsbericht über das Deafblind Retreat 2016 in Seabeck/USA. Nachdem ich (Kristin) aus den unterschiedlichsten Quellen immer wieder tolle Berichte über dieses Camp gehört und gelesen hatte, entschloss ich, mir das selbst unbedingt einmal ansehen zu müssen — und so flog ich dieses Jahr Ende August zum ersten Mal nach Seattle zum Deafblind Retreat.

 

Im Vorfeld war ich ein wenig nervös, schliesslich kannte ich dort (noch) niemanden persönlich. Darüber hinaus war wegen der sprachlichen Barriere ein wenig unsicher und befürchtete, mich nicht verständlich machen zu können, bzw. wenig zu verstehen. Denn ich verstehe zwar die deutsche Gebärdensprache (DGS), und kann mich auch darüber verständigen, aber die Kommunikation in American Sign Language (ASL) war für mich neu. Zwar hatte ich mir zur Vorbereitung vorher eine ASL-App heruntergeladen, aber diese deckte natürlich nur die allernötigsten Basics ab ;) Zum Glück ist das Fingeralphabet in beiden Sprachen fast identisch, so dass es IRGENDWIE immer klappen würde! So beruhigten mich auch viele hör-/sehbehinderte Freunde und Bekannte, die schon einmal in Seabeck waren und dort alle ausschliesslich positive Erfahrungen gemacht hatten. Allerdings waren meine Bekannten in einer Gruppe mit mehreren Deutschen nach Seabeck gekommen, ich dagegen reiste diesmal alleine an.

 

Um es gleich vorweg zu nehmen: Meine Sorgen waren unbegründet! Gleich bei der Ankunft auf dem wunderschön gelegenen Gelände wurden wir sehr herzlich von A.J. Granda (Organisatorin, selbst DEAFBLIND!) empfangen und bekamen jeweils sofort einen SSP (Support Service Provider, vergleichbar mit TBA, Taubblindenassistenz) zur Seite gestellt. Die SSPs halfen uns bei der Anmeldung und Registrierung. Es war mein großes Glück, dass unter den ca. 80 anwesenden SSPs zufällig eine weitere Deutsche aus München da war! So wurde Andrea L. eine von meinen insgesamt 3 SSPs, und wir konnten uns angeregt in LBG und DGS unterhalten. Perfekt! Wir waren übrigens die einzigen Deutschen im ganzen Retreat ;) Es waren noch einige andere Europäer angereist, z.B. Barbara aus Italien oder Bert aus Belgien, mit ihnen bildeten wir die kleine, aber feine Europa-DB-Fraktion!

 

Der Rest kam ausschliesslich aus den USA und Kanada. Auf etwa 50 Deafblind-Teilnehmer kamen ca. 80 SSPs. Die SSPs werden nicht bezahlt und arbeiten auf dem Camp fast rund um die Uhr als Volunteers, also freiwillig! Das ist eine Riesenleistung und verdient natürlich allergrössten Respekt! Pro Tag und Teilnehmer wechseln sich 2-3 SSPs ab. Es gibt drei Schichten, vormittags, nachmittags und abends bis 22 Uhr. Die SSPs unterstützen und helfen bei der Kommunikation, bei den Aktivitäten, bei der Orientierung und begleiten einen auch bei den Mahlzeiten. Ganz wichtig: Man ist zu nichts verpflichtet, alles ist freiwillig. Jeder Teilnehmer kann, darf und soll das machen, worauf er/sie gerade Lust hat. Man kann also jederzeit flexibel mit den SSPs Zeiten und Treffpunkte vereinbaren, oder aber auch alleine etwas unternehmen. Meine anderen beiden SSPs kamen übrigens aus Schweden und den USA/Kambodscha (Jonas und Ronise) und beherrschten neben ASL auch die International Sign Language (ISL). Die Kommunikation mit ihnen klappte ebenfalls prima - wir konnten viele neue Begriffe und Gebärden austauschen und voneinander lernen. So entstand ein internationaler Diskurs über alle Grenzen hinweg ;)

 

Das Motto: 'Deafblind Space'

 

Das Motto des diesjährigen Camps lautete übrigens 'Deafblind Space', auf deutsch: 'Der taubblinde Raum'. Dieser 'Deafblind Space' fand nicht nur innerhalb der Räumlichkeiten statt, sondern überall und jederzeit auf dem kompletten Gelände. Es gibt ein Wegführungssystem mit Seilen, die quer über das hügelige Gelände gespannt sind, und die Häuser so miteinander verbinden. Das tägliche Programm ist jedes Jahr abwechslungsreich gestaltet und es gab allerlei Aktivitäten zur Auswahl, z.B. Klettern, Schwimmen, Yoga, Tandem, Wandern, Kanufahren, Künstlerisches... aber auch ProTactile-Workshops und Special-Interest-Groups können besucht werden, z.B. Meetings für Schwerhörige, Braille-Nutzer, oder auch Treffen der Deafblind Gay Community (LGTQI) etc.

 

Die Kommunikation im Camp ist stark proTaktil ausgelegt. Natürlich gibt es viele Teilnehmer, die noch über ein Rest-Hör/Sehvermögen verfügen, die wenigsten sind komplett taubblind. Auch die SSPs sind bunt gemischt: Sie sind entweder taub, schwerhörig oder hörend. Die Deafies bilden jedoch eine klare Mehrheit. Im Retreat werden Inklusion und Empowerment groß geschrieben: Nicht ohne uns über uns! Alle passen sich daher an und respektieren die bevorzugte Kommunikationsform des Camps. ProTactile steht hierbei nicht nur für taktile Gebärdensprache, sondern beinhaltet darüber hinaus auch eine eigenständige, selbstbewusste Deafblind-Philosophie und Kultur, die hier während der Woche aktiv gelebt und umgesetzt wird.

 

ProTactile, the DeafBlind Way

 

Auf deutsch bedeutet dies übersetzt: 'ProTaktil, die taubblinde Lebensart'. Die wichtigste Regel lautet: 'Touch, touch, touch!' Man bleibt bei der Kommunikation immer in Verbindung. Sei es über die Hände und Arme, oder beim Sitzen nebeneinander über die Beine, die sich berühren. Teilweise 'touched' man sich auch im Stehen, indem man die Füsse des Gesprächspartners mit den eigenen Schuhen leicht touchiert. All dies dient der Info: Ich bin da, ich stehe/sitze/laufe... usw. neben/vor/hinter... Dir. Neben der taktilen Gebärdensprache werden auch Bestätigung, Ablehnung, Freude, Rauminformationen (Wieviele Leute sind da, wer schaut zu, wer geht vorbei...) etc. parallel über haptische Zeichen kommuniziert. ProTaktil bedeutet aber nicht nur, Sprache und Information haptisch erfahrbar zu machen, sondern betrifft alle Lebensbereiche taubblinder Menschen: Kultur, Politik, Gesellschaft und den sprachlichen Ausdruck. Es wird z.B. nicht gesagt/gebärdet: 'See you later!' - sondern 'Touch you later!'.

 

So wie es eine DeafCulture gibt, gibt es auch die DeafBlindCulture. In Workshops wird ProTactile von der Teamleitung anhand vieler Beispiele eindrucksvoll gezeigt und erklärt. Besonders beeindruckend für mich war eine abgewandelte Form des bekannten Spiels 'Stille Post'. Statt zu flüstern/zu gebärden, müssen alle Teilnehmer, nebeneinander sitzend, die Augen schliessen und sich mit den Händen/dem Körper eine haptische Geschichte "erzählen" und diese dann exakt so wie 'empfangen' dem Nachbarn weitergeben. In den meisten Fällen kam am Ende jedoch etwas völlig anderes heraus, was für allerlei Erheiterung sorgte. Den SSPs liefen ob der Verrenkungen vor lauter Lachen teilweise die Tränen übers Gesicht. Es ist am Anfang unglaublich schwierig, sich bestimmte, komplexe Bewegungsabfolgen zu merken und sich dabei allein auf den haptischen Input zu verlassen. Dies zu beobachten und selbst zu erleben, war eine unglaublich lustige und prägende Erfahrung. Die weiteren Eigenheiten von ProTactile genau zu beschreiben, würde den Rahmen sprengen. Hier empfehle ich bei Interesse Videos auf YouTube zum Thema ProTactile Communication (Links stehen unten). Als Neuling die proTaktile Erfahrung zu machen, ist, wie der Ami so gerne sagt: 'Awesome' bis 'Mind-blowing', also genial bis überwältigend.

 

In den USA sind taubblinde Menschen in Sachen Selbstbewusstsein und Empowerment progressiver und konsequenter als wir in Europa, bzw. Deutschland. Von dieser Haltung können wir uns noch einiges abschauen. ProTactile selbst ist auch in den USA noch relativ neu und findet zunehmend positive Akzeptanz und eine immer stärkere Verbreitung. Mich hat diese starke Gemeinschaft unter den Deafblinds unglaublich beeindruckt. Ich kann diese Reise und den einzigartigen, warmherzigen Seabeck-Spirit jedem von ganzem Herzen empfehlen! Man lernt wahnsinnig viele nette, fröhliche Leute aus den USA und der ganzen Welt kennen, alle sind sehr offen und einander zugewandt. Niemand wird ausgeschlossen. Jeder neue Kontakt gibt einem etwas für die Zukunft mit. Das Zusammensein und das gemeinsame Erleben inspiriert und erweitert den eigenen Horizont. Jeder profitiert hier von jedem. Egal ob hörend, schwerhörig, taub oder taubblind. Nächstes Jahr möchte ich unbedingt wieder dabei sein, Du vielleicht auch?

 

Abschliessend ein tolles Zitat von S. Morrison (Mitglied der Teamleitung)

'It takes a deafblind community to raise deafblind leaders.'

 

Facts zum Retreat:

  • Zeit: Jedes Jahr Ende August/Anfang September
  • Ort: Seabeck Conference Center, im Nordwesten der USA (Nähe Seattle)
  • Kosten: Etwa 400 Dollar (1 Woche), plus Flug, vorherige Bewerbung nötig
  • Grösstes Camp für taubblinde Menschen in den USA
  • Teamleitung und Team sind selbst DEAFBLIND!
  • 2016 hat das Camp zum 38. Mal stattgefunden - Beginn: 1978!
  • Sehr starke proTaktile Ausrichtung, auf englisch: ProTactile ASL, kurz: PTASL, ist eine eigene Kommunikationskultur. PTASL drückt das Empowerment der Deafblind Community in den USA aus und ist stark im Kommen
  • Kommuniziert wird auf der Grundlage von ASL (American Sign Language)
  • Jeden Tag buntes Programm mit vielen Aktivitäten und Workshops zur Auswahl
  • Einzigartige Atmosphäre, der sogenannte 'Seabeck-Spirit'!

 

Mehr Infos findet ihr hier:

www.deafblindlh.org/seabeck

www.protactile.org

www.tactilecommunications.org

www.seabeck.org